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Wine, Not War!

Monday, March 9, 2020 3:00 PM

(Actual Translation)

Der cleverste Traubenverkäufer Amerikas, die unpatriotischste Spätburgunder-Liebhaberin an der Pazifikküste und zwei Ex-GIs mit deutschen Erweckungserlebnissen: Kaliforniens Winzerschaft ist so schillernd, wie es seine Weine sind. Drei Proben aufs Exempel.

Sein Kopf, so kolossal wie ein Monumentalschädel der Olmeken Mexikos, begrüßt uns am Eingang des Weinguts, und bescheidener sollte er auch nicht sein, denn klein hat Robert Mondavi zeit seines fast hundertjährigen Lebens nie gedacht. Tonnenschwer und basketballspielergroß ist die Skulptur, die kaum merklich zu lächeln scheint, ganz so, als blicke der Großwinzer mit postumer Genugtuung auf das Werk, das er fast im Alleingang erschaffen hat: Er hat aus dem Napa Valley nördlich von San Francisco das berühmteste, beliebteste und zugleich exklusivste Weinbaugebiet der Vereinigten Staaten von Amerika gemacht, das mit seinen Gewächsen längst in der Preisklasse der teuersten Burgunder und kostbarsten Bordelaiser Châteaux spielt, mit seinen vier Millionen Besuchern pro Jahr nur von Disneyland als populärster Touristenattraktion Kaliforniens übertroffen wird und mit seiner hochprofessionellen Kommerzialisierung mitunter auch an ein Disneyland der Reben erinnert.

Hundertsechzigtausend Menschen defilieren jedes Jahr am Kolossalquadratschädel vorbei in die 1966 gegründete Robert Mondavi Winery, die einer spanischen Missionsstation nachempfunden ist und damit dem mallorquinischen Franziskanermönch Junípero Serra die Honneurs macht, dem Urvater von Kaliforniens Weinbau, der 1769 die ersten Rebstöcke an der Pazifikküste für den Messwein pflanzte. Alle zwanzig Minuten beginnt in der Hochsaison eine Führung in Englisch oder Mandarin, die im Stakkato-Tempo die Besucher durch die Fasskeller mit ihren haushohen Gärtanks und Tausenden französischer Barriques schleust, sie in der VIP-Variante den kraftstrotzenden und trotzdem samtweichen Cabernet Sauvignon Reserve für hundertsiebzig Dollar pro Flasche verkosten lässt und ihnen dabei das märchenhafte Leben des italienischen Einwandererkindes Robert Mondavi erzählt. Er weckte das Tal aus seinem Dornröschenschlaf, in den es nach der Prohibition gefallen war, führte moderne Kellertechniken ein, öffnete als Erster sein Weingut für Touristen, vermarktete seine Cabernets und Fumés so offensiv wie Coca-Cola seine Brause und machte dank seines Verkaufstalents aus dem Napa Valley eine globale Marke. Heute werden unter seinem Namen jedes Jahr hundertfünfzig Millionen Flaschen verkauft, und einmal in der Robert Mondavi Winery gewesen zu sein kommt für viele amerikanische Weinliebhaber einer Pilgerfahrt zum Heiligen Gral gleich.

Kussmünder als Sitzgelegenheiten

Ein schöneres Ziel als dieses Tal werden sie in Nordamerika kaum finden, das in seiner pittoresken Kompaktheit an das Burgund oder die Pfalz erinnert. Über vierzig Kilometer zieht es sich wie ein Rebengarten Eden zwischen zwei waldreichen Bergketten von Süden nach Norden, lückenlos bepflanzt mit zwanzigtausend Hektar Rebstöcken, sorgsam bewirtschaftet zumeist von Familienbetrieben, stilsicher möbliert mit fein herausgeputzten Kleinstädten. Die feinste von allen ist Yountville, ein Ort der kultivierten Sorglosigkeit, in dem das Geld nicht zum Protz neigt und sich selbst die Luxushotels mit ihren Fassaden aus alten Fassdauben demütig in das Holzhäuschenensemble einfügen, in denen niemand um sein Leben kämpfen muss und einzig ältere Herrschaften auf Rennrädern in voller Tour-de-France-Montur Kämpfe gegen sich selbst ausfechten.

In Yountville lebt man inmitten von manikürten Rasenflächen, gestutzten Buchsbaumhecken und prachtvollen Rosensträuchern, die vom mexikanischen Fachpersonal in Schuss und Form gehalten werden, leistet sich öffentliche Sitzgelegenheiten in Gestalt von roten Kussmündern, hat die Wahl zwischen italienischen Delikatessen, spanischer Luxushausmannskost oder französischen Bistros und kann mit hoher Wahrscheinlichkeit dem berühmtesten Chef Amerikas über den Weg laufen, der mit Kochjacke, Clogs und Jutetasche durch die stillen Straßen stapft, die Passanten freundlich grüßend. Thomas Keller ist Robert Mondavis kulinarischer Bruder im Geiste, der fast ganz allein aus dem Napa Valley das Alpha und Omega der amerikanischen Feinschmeckerei gemacht hat – mit inzwischen zehn Michelin-Sternen und seinem eigenen Drei-Sterne-Restaurant „The French Laundry“ in Yountville als Inbegriff und Keimzelle der kalifornischen Hochküche.

Hoflieferant des Weißen Hauses

Von Thomas Kellers Ruhm profitieren auch Chefs wie Ken Frank, der in Napa einen Steinwurf vom Culinary Institute of America entfernt sein Lokal „La Toque“ führt. Seit er zu Schulzeiten in einem Restaurant in Frankreich als Tellerwäscher jobbte, ist er der Haute Cuisine verfallen und zelebriert sie trotz seines Michelin-Sterns ganz ohne Pomp und Etikette. In seinem Restaurant, das am Eingang eine riesenhafte, namensgebende Kochmütze in Olmeken-Dimensionen schmückt, geht es so laut und unprätentiös wie in einem Diner zu. Allerdings wird hier kein Flaschenbier serviert, sondern die Hocharistokratie der globalen Weinwelt, und das mitunter zu Kleinwagenpreisen. Auf den Tisch kommt dazu eine muntere, amerikanisch-französische Fusionsküche, die keine Skrupel kennt, Rancho-Gordo-Bohnen, wie sie die Cowboys am Lagerfeuer löffeln, mit Pazifischen Austern und Osietra-Kaviar zu kombinieren und dabei wundersamerweise Blutsbrüderschaft zwischen den dreien zu stiften. Mal kocht Ken Frank harmonisch minimalistisch wie bei seinem Drachenkopffisch in Zwiebelasche mit Kohlrabi, Buchenpilzen und Muschel-Nage, mal maximal kraftstrotzend wie bei der Abalone in brauner Butter mit Jerusalem-Artischocke, Haselnuss und Bacon. Manchmal mag er es exotisch, spickt ein Lamm-Ragout im Blätterteigmantel mit Pistazien und marokkanischen Gewürzen, dann wieder hobelt er ganz klassisch weißen Alba-Trüffel verschwenderisch über die Tortelloni. Und niemals stellt sich die Frage, ob das Ganze auch in Europa einen Stern verdient hätte, weil sie müßig ist, denn wir sind nicht in Europa.

Die Frage allerdings, ob die Schaumweine aus dem Hause Schramsberg mit ihren europäischen Kollegen aus der Champagne konkurrieren können, hat sich sogar dem französischen Präsidenten gestellt. Das Weingut, das idyllisch im Wald hoch über dem Tal zwischen Seerosenteichen mit befrackten Froschskulpturen und Wirtschaftsgebäuden mit verwitterten Holzfassaden liegt, wurde 1862 als zweitältestes im Napa Valley von Jakob Schram gegründet. Als Sechzehnjähriger floh er vor den Rekrutierungstrupps seines hessischen Landsherrn aus dem Rheingau nach Amerika, spezialisierte sich auf Sekt und ließ von chinesischen Arbeitern, die nach der Fertigstellung der transkontinentalen Eisenbahn nichts mehr zu tun hatten, kilometerlange Tunnel in den Tuffstein schlagen. Heute lagern dort drei Millionen Flaschen, während im Verkostungsraum des Weinguts eine Bildergalerie den Rang von Schramsbergs Schaumweinen dokumentiert: Seit Nixon haben alle amerikanischen Präsidenten die Sekte im Weißen Haus ausgeschenkt, selbst der notorische Abstinenzler Donald Trump ist zu sehen, wie er neben Emmanuel Macron ungelenk sein Glas in die Kamera hält.

Den Einwanderern sei Dank

Monsieur le Président wird gestaunt haben über die Gewächse, die alle nach der Méthode champenoise ausgebaut werden, ausschließlich aus Chardonnay und Pinot Noir bestehen, mindestens zwei Jahre lang, manchmal aber auch ein Vierteljahrhundert auf der Hefe liegen, mit ihrer lebendigen Säure, den dezenten Aromen von grünem Apfel und dem Brioche-Duft stilistisch den Prestige-Champagnern nacheifern und sie preislich nonchalant ein-, wenn nicht sogar überholen, weil das Napa Valley – den deutschen und italienischen Einwanderern sei Dank – als Ikone des amerikanischen Weinbaus längst zu seinem eigenen Vorbild geworden ist.

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Man kann den Faschismus mit Yoga bekämpfen. Das jedenfalls behauptet ein Häuflein Demonstranten, das an der Hauptstraße von Sebastopol im Herzen des Sonoma County gegen Präsident Trump demonstriert und dabei auch Schilder mit Parolen wie „Proud Globalist“ oder „Everybody is a Refugee“ in die Höhe hält, während ein ordensbehangener Veteran auf der anderen Straßenseite die Ein-Mann-Gegendemonstration bildet. Auch sonst sind in Sebastopol Alt-Hippies und wehrhafte Yogisten in der Mehrheit, die allerlei Kräuterapotheken, Kraftsteinfachhandlungen und Läden für Aussteigerbedarf gute Geschäfte bescheren. Sogar leibhaftige Sannyasin marschieren noch mit Jesuslatschen oder strenggläubig barfuß durch die Straßen des leicht verlotterten Kleinstädtchens, das nicht nur Ausdruck der legendären Liberalität Kaliforniens, sondern auch der Vielfalt des Sonoma County ist.

Sonoma ist der Nachbar und zugleich das glatte Gegenteil von Napa. Seine Weinberge verstreuen sich auf einer hundertfünfzig mal fünfzig Meilen großen Fläche, ziehen sich durch Berg und Tal und schenken der Landschaft mit der strengen Geometrie ihrer Rebzeilen immer wieder eine wunderbar geordnete Anmut. Dazwischen ist Platz genug für Ackerbau und Viehzucht, Eichenwälder und Pinienhaine, zersiedelte Städte und unberührte Wildnis; für die wilde, windzerzauste Pazifikküste mit dem Highway Nummer 1, die in ihrer Kargheit an die schottischen Highlands erinnert, und für Naturschutzgebiete mit riesenhaften, kerzengeraden Redwood-Bäumen, die tausend Jahre alt und hundert Meter hoch werden und mit ihren gerippten Rinden wie kannelierte Säulen aussehen; für Hippie-Fluchtburgen wie Sebastopol und piekfein zurechtgemachte Orte wie Healdsburg, das sich rühmt, eine „Weltklassekleinstadt“ zu sein. Es verdient sich diesen Ruhm mit hundertjährigen Häusern, die von korinthischen Kapitellen geschmückt werden, einer Plaza mit Pavillon, der Palmen und Orangenbäume Schatten spenden, einem halben Dutzend durchdesignter Degustationsräume, die sich die Weingüter der Umgebung in der Innenstadt leisten, und gehobenen Geschäften für Küchenbedarf, die original spanische Paella-Pfannen in jeder Größe verkaufen, weil das Nationalreisgericht Iberiens bei den besseren Ständen derzeit deutlich populärer ist als das proletarisch-uramerikanische Barbecue.

Pegasus auf Interkontinentalflug

Weltoffenheit ist auch das Leitmotiv des blutjungen Weinguts Gracianna der Familie Amador, das erst vor zwölf Jahren gegründet wurde, nach der baskischen Ururgroßmutter des Kellermeisters benannt ist und am Ufer des Russian River liegt, der Spitzenlage von Sonoma und einer der berühmtesten ganz Amerikas. Die Amadors haben sich ein spektakuläres Gutsgebäude samt Wohnhaus im radikal modernisierten Toskana-Stil inmitten ihrer Weinberge errichtet, einen kubistischen Doppelquader mit Wänden aus Stucco, Fensterlaibungen aus Carrara-Marmor, Böden aus türkischem Kalkstein, einer monumentalen, hölzernen Eingangstür aus einer mexikanischen Hacienda, die mit Reliefs der mayanischen Maisgottheit verziert ist, und massenhaft moderner Kunst wie einem Pegasus aus Treibholz, der den weiten Weg aus Bali bis nach Kalifornien herübergeflogen ist.

 
Ganz in der Nähe liegt das berühmte Gut des noch berühmteren Filmregisseurs Francis Ford Coppola: Reben in Sonoma County. : Bild: Visit California/David Collier

Die wertvollsten Wingerte von Gracianna liegen direkt vor der Tür in der sogenannten Miracle Mile, an der der Russian River eine so starke Biegung beschreibt, dass er die Weingärten jedes Jahr überschwemmt und dabei verschwenderisch Nährstoffe und Mineralien ablagert. Es ist das ideale Terroir für Pinot Noir, der hier zu ungeheuerlich dichten, aber von einer straffen Säure vor den Verführungen des Marmeladengeschmacks geschützten Weinen heranreift – eigenwillige Pazifikküsten-Spätburgunder, die nichts mit ihren Brüdern aus Beaune oder Charlemagne zu tun haben.

Der Duft von Wildkräutern und Orangenblüten

Sogar nichts anderes als Pinot Noir baut Mari Jones in ihren Emeritus Vineyards an, und auch sonst macht die junge Winzerin vieles anders als ihre Kollegen in Sonoma. Sie bewässert ihre Rebstöcke nicht, obwohl es im Sommer drei Monate lang keinen Tropfen regnet, lässt ihre Trauben aber aus Klugheit, nicht Sadismus leiden, denn so intensiviert sich ihr Aroma enorm. „Old world style“ sei das, sagt Mari Jones, die prinzipiell nachts erntet, weil das weniger Stress für die Trauben bedeutet, was wiederum für mehr Frische und weniger voluminöse Frucht sorgt, also für mehr Europa und weniger Kalifornien. Sie vergärt nach alteuropäischer Sitte ausschließlich spontan, verwendet keine Reinzuchthefen, lässt ihre Weine nicht länger als ein Jahr in Barriques von befreundeten Küfern aus dem Burgund lagern und keltert Pinots, die so natürlich, so unverfälscht wie möglich und keinesfalls nach Kellermeistertricks schmecken sollen. Dicht und komplex sind diese Gewächse, kühle Schönheiten, die sich in den Duft von Wildkräutern und Orangenblüten hüllen und manchmal auch von Salz und Seegras, weil der Pazifik die Reben über viele Stunden in den berüchtigten San-Francisco-Nebel hüllt.

Vor kurzem sei sie in Beaune gewesen und habe bei einem Weinfest den burgundischen Winzern ihren Burgunder untergejubelt, in der festen Überzeugung, bei ihren französischen Kollegen krachend durchzufallen, sagt Mari Jones. „Doch dann ging das Glas von Hand zu Hand, und ich musste immer wieder nachgießen.“ Jetzt lächelt sie still, weil es ein größeres Kompliment für sie nicht geben kann. Vielleicht sollte jemand den Hippies aus Sebastopol sagen, dass man nicht nur Faschismus mit Yoga, sondern auch Nationalismus mit Spätburgunder bekämpfen kann.

Joe wurde am Bodensee vom Saulus zum Paulus und Phil in Rüdesheim am Rhein. Der eine war in Augsburg stationiert, der andere in Kaiserslautern, und im Gegensatz zu ihren GI-Kollegen kippten sie sich nicht literweise deutsches Bier hinter die Binde, sondern verbrachten ihre Freizeit in Deutschlands Weinbaugebieten. Dort wurde vor einem halben Jahrhundert der Samen einer Liebe gesät, der sehr viel später erst, nach einem halben Leben in den Fängen der Konvention, aufgehen sollte und heute umso schönere, transatlantische Völkerfreundschaftsfrüchte in Gestalt von Albariño und Arneis, Tempranillo und Sangiovese trägt.

Joe Hart und Phil Baily sind Winzer in Temecula, dem wichtigsten Weinbaugebiet Südkaliforniens, das zwischen San Diego, Los Angeles und Palm Springs in den glücklichsten Umständen liegt. Die San-Bernardino-Berge im Osten verhindern, dass Temcula zur Wüste wird, und eine Lücke in der Bergkette an der Küste sorgt dafür, dass pazifische Winde den Reben nach brüllend heißen Tagen Abkühlung in der Nacht verschaffen – ideale klimatische Bedingungen für die Rebstöcke, die vor allem auf Granit mit vereinzelten Vulkanverwitterungen stehen. Das Weingebiet ist keine fünfzig Jahre alt, was erklären mag, dass seine Weingüter in einem schmerzlosen Synkretismus errichtet sind. Sie ahmen spanische Missionsstationen, mexikanische Ranchos, toskanische Villen oder Loire-Schlösschen nach und reihen sich fast ausnahmslos an der California Ranch Road aneinander, einer schnurgeraden Weinstraße mit einer Parade von Zypressen und Olivenbäumen links und rechts, die am frühen Morgen besonders pittoresk ist, wenn Heißluftballons im Dutzend über dem Tal aufsteigen.

Ein amerikanisches Mykene

Temecula ist sehr stolz auf seine Altstadt, die zwar nur sieben Straßen umfasst, aber für kalifornische Verhältnisse ein homerisches Alter von hundertsechzig Jahren hat. Das Gründungsdatum prangt samt Darstellungen von Viehzügen und Postkutschen auf einem Torbogen am Eingang des „Historic District“, der den Besuchern den Eindruck gibt, ein amerikanisches Mykene zu betreten, und ihnen außerdem das Geheimnis des Ortsnamens lüftet: Vor tausend Jahren stand der Indianerhäuptling Nahachish hier, als gerade die Sonnenstrahlen den Morgennebel durchbrachen, und sagte „Temecula“, was auf Indianisch „Sonnenstrahlen durchbrechen den Morgennebel“ bedeutet.

 
Die koloniale Vergangenheit ist allgegenwärtig im hispanisch geprägten Tal von Temecula. : Bild: ©Visit California/Dominic Bracco

Mykene besteht aus einer Handvoll hundertjähriger Gebäude, oft nicht mehr als Baracken, deren historischer Wert auf Bronzetafeln gerühmt wird, selbst dann, wenn er einzig darin besteht, Schauplatz einer Schlägerei mit Todesfolge gewesen zu sein. Die Neubauten kleiden sich pflichtschuldig in ein altertümliches Gewand, und überhaupt regiert hier die Historie uneingeschränkt. Überall gibt es Vintage und Vinyl, windschiefe Straßenlaternen, die Gasbeleuchtung vorgaukeln, echte und falsche Antiquitäten, die bei uns eher als Trödel durchgingen, und dazwischen ein hölzernes Hexenhäuschen, in dem eine Dame namens Paula Tarot-Karten legt und aus der Hand liest.

Familienbetriebe statt Milliardärsspielzeug

Temeculas Wein ist noch eine zu zarte Pflanze, um in der jugendlichen Altstadt Spuren zu hinterlassen und ihren Geburtsort an der California Ranch Road zu verlassen. Dort gibt es eine Handvoll Riesenweingüter wie die Schwesterbetriebe Carter Estate Winery und South Coast Winery mit ihren ballsaalgroßen Restaurants und supermarktgroßen Verkostungsräumen, die den Firmengründer James A. Carter, einen erfolgreichen Immobilienentwickler, mit einer Plexiglasbüste im Bronze-Look ehren – Geiz scheint die Quelle allen Reichtums zu sein – und die vor Auszeichnungen überquellen. Viertausend Preise, so lernt man erstaunt, hat allein die Carter Winery schon gewonnen, obwohl sie erst seit 2003 Wein verkauft, eine selbst für das preiswütige Award-Amerika horrende Zahl.

 
Wer als Weintourist in Kalifornien seine Ruhe haben will, fährt nach der Verkostung in Temecula Ballon. : Bild: Visit California/Ryan Killackey

Die meisten Weingüter sind allerdings keine Beschäftigungstherapie für reiche Investoren mit Lebenssinnkrise oder Milliardärslangeweile, sondern kleine Familienbetriebe enthusiastischer Winzer wie Phil Baily und Joe Hart. Bei den Harts sitzt man auch nicht in einem Disneyland-Chambord, sondern in einer besseren Holzhütte, verkostet die Weine auf einer etwas nachlässig zusammengezimmerten Veranda und wird vom Seniorchef persönlich über dessen Werdegang unterrichtet.

Schicksalhafter Busausflug an den Bodensee

In den sechziger Jahren verlor Joe Hart bei einem Busausflug an den Bodensee sein Herz an den deutschen Riesling, arbeitete nach dem Militärdienst aber noch viele Jahre lang als Sozialkundelehrer und absolvierte nebenbei ein Fernstudium der Önologie, bevor er 1973 eines der ersten Weingüter in Temecula gründete. Inzwischen verantwortet Joes Sohn Jim Keller und Weinberg, der lange im Computer-Gewerbe sein Geld verdiente, den Verlockungen des Weinbaus aber dann doch nicht widerstehen konnte. Jetzt bewirtschaftet er knapp fünf Hektar, füllt fünfzigtausend Flaschen pro Jahr ab, verkauft sämtliche Weine ab Hof oder an die loyalen Mitglieder seines „Wine Club“ und denkt nicht im Traum daran, sich dem typisch kalifornischen Stil zu unterwerfen. Er keltert keine Fruchtbomben, keine Aromenkraftsportler, keine Malibu-Muskelmänner in der Flasche, sondern filigrane, schlanke, transparente Weine aus ureuropäischen Rebsorten, die europäischen Weintrinkern ohne Sehnsucht nach kalifornischen Wuchtbrummen mit sechzehn Prozent Alkohol viel Freude bereiten.

Joes Kumpel Phil Baily war in seinem früheren Leben Unternehmensberater in Los Angeles, kelterte nebenbei zehn Gallonen pro Jahr für den Hausgebrauch, hatte 1986 die Nase voll von dem Zwölf-Millionen-Einwohner-Moloch, kaufte in Temecula Weideland, pflanzte Reben, nahm bei Joe Hart Winzernachhilfeunterricht und baute sich an der California Ranch Road einen Verkostungsraum, der wie ein verirrter römischer Tempel aussieht, eigenwillig dekoriert mit Löwen, Greifen, geflügelten Höllenwesen und ionischen Säulen. Viel lieber als hier ist Phil Bailey aber in seiner schlichten Kellerei oben in den Hügeln und perfektioniert trotz seiner knapp achtzig Jahre mit ungebrochenem Enthusiasmus seine Cuvées im Bordeaux-Stil, die er zweieinhalb Jahre in französischer Eiche ruhen lässt, eine ungewöhnlich lange Zeit im geschäftstüchtigen Kalifornien, und die mit ihrer unprätentiösen Eleganz spielend als Grand Cru Classé durchgehen könnten.